Gratis-ÖV wird zunehmend als ökologische und soziale Massnahme gesehen, um die Verlagerung vom Auto auf den ÖV zu fördern. Es gibt aber auch Gegenstimmen.
Die Idee einer Gratisnutzung des ÖV ist nicht neu. Verschiedene kantonale Volksinitiativen trugen die Debatte um diese Frage an die Öffentlichkeit. Im März 2023 erklärte das Bundesgericht eine Freiburger Initiative für ungültig und berief sich dabei auf Artikel 81a der Bundesverfassung, der vorsieht, dass die Benutzer*in- nen einen angemessenen Teil der Kosten des öffentlichen Verkehrs decken müssen. Seitdem ist die Diskussion um einen für alle Nutzer*innen kostenlosen ÖV ins Stocken geraten. In Genf können jedoch seit Anfang 2025 Personen zwischen 6 und 25 Jahren kostenlos durch den ganzen Kanton fahren. Und in Basel-Stadt wurde im April 2024 als Gegenvorschlag zu einer Initiative, die ein gratis ÖV-Abo für Kinder und Jugendliche vorsah, ein kostengünstigeres, regionales Abo für 365 Franken im Jahr eingeführt.
Hilft ein kostenloser ÖV der Verkehrsverlagerung?
Ein Hauptargument für kostenlose öffentliche Verkehrsmittel ist, dass sich so mehr Menschen mit dem ÖV statt mit dem Auto fortbewegen. Wenn der ÖV gratis (oder günstiger als jetzt) ist, wird er im Vergleich zum Auto attraktiver. Erfahrungen aus dem Ausland zeigen jedoch, dass die Zunahme von Fahrgastzahlen stark vom lokalen Kontext und von weiteren Massnahmen abhängt. Gratisangebote allein reichen nicht aus, um einen massgeblichen Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel zu bewirken: Die Qualität der Dienstleistungen (Anbindung, Zuverlässigkeit, Effizienz und Komfort) bleibt ein Schlüsselfaktor für die Wahl der Nutzer*innen.
Ein weiteres Argument ist die soziale Dimension. Wenn Kosten für den ÖV wegfallen, wird Menschen mit tiefem Einkommen der Zugang erleichtert. In der Schweiz sind die Preise für öffentliche Verkehrsmittel seit 1990 stark angestiegen und haben sich für manche Strecken verdoppelt. Dieser Anstieg, der auch vom Preisüberwacher kritisiert wurde, bremst die Verlagerung vom Auto auf den ÖV und die Erreichung der Klimaziele (–100 % bis 2050 im Verkehrssektor). Paradoxerweise stagnierten im selben Zeitraum die Kosten für die Autonutzung oder sanken sogar, wenn man die Inflation berücksichtigt. Wie ist es zu rechtfertigen, dass die Nutzer* innen öffentlicher Verkehrsmittel immer mehr bezahlen, wenn es die Autofahrenden sind, die Milliarden an externen Umwelt- und Gesundheitskosten verursachen?
Nicht alle sind begeistert
Die Kritiker*innen des Gratis-ÖV argumentieren, dass dies zu zusätzlichen Fahrten führe, die sonst nicht unternommen würden. Eine Abnahme des Autoverkehrs gäbe es dadurch kaum. Eine weitere Befürchtung ist, dass Menschen, die bis anhin mit dem Velo oder zu Fuss unterwegs waren, neu den öffentlichen Verkehr nutzen würden.
Zudem wird argumentiert, dass die Kosten eines Tickets für Autofahrer*innen kein wirkliches Argument für oder gegen das Umsteigen seien; sich mit einem Abonnement im öffentlichen Verkehr fortzubewegen, sei bereits heute billiger, als mit dem Auto zu fahren. Jedoch gingen durch die Gratisnutzung die Ticket- und Abo-Einnahmen verloren, wodurch Mittel für den Unterhalt und den Ausbau des Netzes fehlten. Dies gelte insbesondere in finanzschwachen oder besonders autofreundlichen Regionen, in denen es staatliche Mittel für den ÖV schwer haben.
Beispiele aus dem Ausland
Luxemburg war das erste Land der Welt, das 2020 die öffentlichen Verkehrsmittel im gesamten Staatsgebiet für alle kostenlos machte. Die Regierung verknüpfte die Einführung von Gratis- ÖV mit einem Programm zur vollständigen Erneuerung des nationalen Busliniennetzes. Zudem wurde in die Pünktlichkeit und die Qualität des ÖV investiert. Da die Massnahmen direkt vor der Corona-Pandemie umgesetzt wurden, ist deren Wirkung schwer abzuschätzen. Die Zahlen von 2021 deuten jedoch auf einen Anstieg der ÖV-Nutzung hin.
Seit Herbst 2022 ist auch in Malta der ÖV kostenlos. Zudem haben diverse Städte Gratis-ÖV eingeführt. Die estnische Hauptstadt Tallinn setzte Gratis-ÖV bereits 2013 um. In Frankreich haben insgesamt 45 Städte den öffentlichen Verkehr für ihre Bevölkerung kostenlos gemacht, darunter Dünkirchen mit rund 200 000 Einwohner* innen und Montpellier mit rund 500 000 Einwohner*innen. Die Finanzierung erfolgt insbesondere über eine «Mobilitätsabgabe», die von Unternehmen mit mehr als zehn Beschäftigten bezahlt wird. In Dünkirchen konnte ein Jahr nach der Einführung ein Anstieg der ÖV-Nutzung von 85 Prozent festgestellt werden. Dieser Anstieg ist unter der Woche (+65 Prozent) wie auch am Wochenende (+125 Prozent) sichtbar, was zeigt, dass der ÖV nicht nur für den Arbeitsweg vermehrt genutzt wird. In Dünkirchen nutzt die Hälfte der Fahrgäste Busse und Trams für Fahrten, die sie zuvor mit dem Auto zurückgelegt hat.
Ökologische und soziale Massnahmen
Auch wenn Gratis-ÖV allein nicht ausreicht, um einen massiven Wandel herbeizuführen, kann er – in eine Gesamtstrategie eingebettet – ein umweltfreundlicher, populärer und wirksamer Hebel sein, um den Autoverkehr einzuschränken und alternative Verkehrsmittel attraktiver zu machen. Die Debatte über Gratis-ÖV widerspiegelt unterschiedliche Ansichten, wie die Mobilitätswende zu erreichen ist. Es ist Zeit, diese wichtige Debatte zu führen.