Wer hat sie nicht schon gesehen? Die historischen Fotos oder sogar Filme von unseren Plätzen und Strassen, die wie Ameisenhaufen belebt waren. Autos sind die grosse Ausnahme. Neben ein paar Kutschen und dem einen oder anderen Tram prägen Fussgänger*innen den öffentlichen Raum. Mit Schubkarren oder schweren Lasten, lebensfroh oder zielstrebig und eilig gingen sie ihrer Wege. Die Bilder sind überraschend, denn sie zeigen, wie belebt der öffentliche Raum früher war – und wieder sein könnte.
An den Rand verdrängt
Heute werden die Strassen nämlich fast vollständig von vierrädrigen Metallboxen besetzt, was dem öffentlichen Raum einen gefährlichen und leblosen Anstrich verleiht. Dass es so weit gekommen ist, ist kein Zufall. Anfang des 20. Jahrhunderts hat die Automobilindustrie realisiert, dass der zunehmende Absatz von Autos zu mehr Unfällen führt und dadurch die Akzeptanz in der Bevölkerung schwindet. In den USA wurden Zufussgehende mit aufwendigen Kampagnen des «jaywalking» (frei übersetzt: tölpelhaftes Benehmen) bezichtigt, wenn sie sich nicht an strikte Verkehrsregeln hielten. Damit wurden die Fussgänger*innen auf die Restfläche «Trottoir» verbannt und müssen seither Umwege in Kauf nehmen, um über Fussgängerstreifen heil auf die andere Strassenseite zu gelangen. Unterdessen wird diese Restfläche auch noch von Skateboards, E-Trottis, Inlineskates und Velo fahrenden Kindern beansprucht, und die Fussgänger*innen kommen zunehmend unter die Räder.
Höchste Zeit, etwas Grundlegendes zu ändern: Es gilt nicht nur, die Restfläche «Trottoir» zu verteidigen, sondern den öffentlichen Raum insgesamt zurückzuerobern. Die Strasse muss wieder von Kindern, älteren Menschen und der Quartierbevölkerung in Beschlag genommen werden. Autos sind auf die Restflächen zu verbannen und haben sich dort angemessen zu benehmen – sprich: langsam zu fahren.
Die Rückeroberung
Dies ermöglicht nämlich eine völlig neue Strassengestaltung. Die Aufteilung von Fassade zu Fassade kann neu gedacht werden. Eine typische Quartierstrasse von ungefähr 14 bis 16 Metern Breite kann künftig beispielsweise auf der einen Seite eine 3 Meter breite Gehfläche, dann eine 5 bis 7 Meter breite entsiegelte Fläche mit Bäumen und abschliessend eine 6 Meter breite Fahrbahn enthalten. Die Gehfläche ist den Fussgänger*innen vorbehalten. Auf der entsiegelten Fläche mit Bäumen finden unter anderem Sitzbänke, Spielgelegenheiten (z. B. Pingpongtische) oder Veloständer Platz. Die Fahrbahn wird von allen genutzt. Velos passieren in angemessenem Tempo, und wenige Autos mit geringer Geschwindigkeit für das Notwendigste werden gestattet. Dazu gehören Blaulichtorganisationen, Güterumschlag für Gewerbe und Transport sowie die Post für die Paketlieferung. Wer sich nun denkt, jaja, träum weiter, dem empfehle ich einen Spaziergang durch die Binzallee in Zürich. Hier wird dieses Konzept seit über zehn Jahren erfolgreich gelebt. Eigentlich schade, dass das Beispiel nicht flächendeckend Schule gemacht hat. Darum ist es höchste Zeit, dass die Stadtklima-Initiativen den nötigen Druck für die Umgestaltung unserer Quartierstrassen erzeugen – damit die Strassen wieder den Anwohnenden gehören, das Quartierleben aufblüht und der tägliche Spaziergang zum Genuss wird.